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Der Bündner Brotring

Jede Speise hat ihre Jahreszeit

Das Bündner Kantonsbrot ist ein Omnitalent: Es findet dank einem furchtlosen Knaben Eingang in die Weltliteratur, wehrt sich dank Loch vor gefrässigen Mäusen und ernährte die Puschlaver Bevölkerung durch den gesamten Winter.

Matthias M. Mattenberger

Das Bündner Kantonsbrot, das «Puschlaver Ringbrot», hat es zu Weltbekanntheit gebracht. Zu verdanken hat es diesen Ruhm einem furchtlosen Bündner Knaben namens Ursli. Klingelt es bereits in den Ohren? Er kommt aus dem kleinen Dorf Guarda und ist dort dafür verantwortlich, dass im Sommer Autobusse täglich mehr Touristen hoch bringen als das Dorf Einwohner hat – die 26 Ziegen, 256 Rinder und 21 Pferde mitgezählt.

Es handelt sich um den «Schellen Ursli», der sich mit seiner blauen Zipfelmütze furchtlos auf die Suche nach der grössten Schelle für den Chalandamarz-Umzug macht. Oben im Maiensäss findet er neben der grossen Treichle auch ein gut schmeckendes Ringbrot, das ihm den Hunger von der anstrengenden Bergwanderung nimmt.

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Schon «Schellen Ursli» ass ein gut schmeckendes Ringbrot.

Unten im Tal wird das kreisrunde Roggenbrot noch wie damals gebacken. Unter anderem von Arthur Thoma-Giacometti, dem nächstgelegenen Bäcker von Guarda, im Nachbardorf Lavin. «Gut möglich, dass das Ringbrot aus Schellenurslis Maiensäss aus unserem Ofen stammte», lacht der Bäcker und weist auf die langjährige Tradition seiner Familie hin: Er ist bereits die vierte Generation, die täglich in die fast hundertjährige Backstube steigt.

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Klassisch mit Loch: das Puschlaver Ringbrot

Chalandamarz und der Bäcker

Familienvater Thoma hat eine aktuelle Verbindung zum Chalandamarz, dem Umzug an dem die Schulkinder in den rätoromanischen Gemeinden singend und laut schellend den Winter vertreiben. In seinem Dorf ist es Brauch, dass die Eltern der Kinder, die den Umzug anführen, für alle anderen kochen. In den letzten Jahren war es an ihm, die jungen Mäuler des Dorfes zu verpflegen. Aus der Backstube gab es Pizza und andere kindergerechte Menüs – und natürlich immer das passende Brot dazu: Das Ringbrot des Schellenursli, des wohl bekanntesten Chalandamarz-Anführers.

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Chalandamarz in Lavin

Roggen – das Getreide der Berge

Erste Erwähnung findet das Kantonsbrot Ende des 18. Jahrhunderts in einem Text aus dem Puschlav. Das italienischsprachige Südtal war im Winter durch den Berninapass jeweils komplett von der restlichen Schweiz isoliert. So verwundert es nicht, dass der erwähnte «kleine Teigring» der Hirten aus Roggen bestand. Die Getreideart liefert auch an kalten und feuchten Standorten noch gute Erträge. Über den Einsatz des würzenden Anis herrscht allerdings Ungewissheit. Verschiedene Theorien besagen, dass das Gewürz den Geschmack, die Verdauung oder die Fermentation der Hefe positiv begünstigt.

Arthur Thoma-Giacometti
Bäcker Arthur Thoma-Giacometti zeigt die Herstellung des «Puschlaver Ringbrots».

«Mincha trat ha sia saschun» («Jede Speise hat ihre Jahreszeit») besagt ein rätoromanisches Sprichwort. Im Fall des Bündner Kantonsbrots ist dies der Herbst. Dann wurde es gebacken und zum Schutz vor Nagern an Stangen aufgereiht in die Höhe gehängt – deshalb das Loch. Es musste den ganzen Winter über halten. Wohl steinhart kam es noch im Frühling auf den Tisch. Bäcker Thoma beruhigt: «In meiner Bäckerei gibt es das Brot das ganze Jahr über frisch.» Er liebt den an einen Donut erinnernden Laib. «Am Morgen süss mit Konfitüre, am Nachmittag oder auf einer Wanderung mit Bündnerfleisch oder einem herzhaften Salsiz.» Um die Spezialität für Unterwegs handlicher zu halten bäckt Thoma eine kleine Version des Ringbrotes. «Diese ist bei Schülern als Pausenverpflegung sehr beliebt.»

So zahlreich die rätoromanischen Namen für das Ringbrot, so verschieden sind seine Backarten. Thoma verwendet für sein «Brasciadela», wie es in seiner Region genannt wird, neben dem Roggen- und Weizenmehl auch einen kleinen Anteil Sauer-Vorteig. Zudem bäckt er das Brot auf Wunsch seiner Kunden auch ohne Anis.

Und wenn seine Kinder am Chalandamarz auch nächstes Jahr mit der grössten Glocke voran marschieren wird er wieder das ganze Dorf mit Nachtessen und Ringbrot versorgen.