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Solothurns Brote

Mit K(r)opf und Kragen

Das Solothurner Kantonsbrot ist Kult: Es geht auf einen Gebäckfehler zurück und ist vielleicht gerade deshalb so beliebt. Auch der Solothurner Grittibänz ist so markant wie wohl nirgendwo sonst. Denn er stellt in seiner Form den heiligen Schutzpatron Ursus dar. Egal ob Ruchbrot mit K(r)opf oder Bänz mit Kragen – Solothurns Brote treffen genau meinen Geschmack.

Marlies Keck

Ich gebe es zu: Ich liebe kulinarische Städtereisen, und zwar quer durch die Schweiz, meinem Heimatland, wo es immer wieder Neues zu entdecken gibt. Getreu nach Goethes Zeilen: «Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah». Entsprechend war der Ausflug nach Solothurn nicht nur wegen der sehenswerten Barock-Bauten oder der wunderschönen Natur rund um die Stadt ein Genuss. Vor allem freute ich mich als bekennende Brotliebhaberin auf das Solothurnerbrot, das nach alter Tradition mit rund acht bis zehn Stunden Gärzeit zu dem knusprigen Brot wird, das innen lange feucht und frisch bleibt.

Gebäckfehler wird Kult

Kaum in Solothurn angekommen, steuere ich auch gleich die erste Bäckerei an, die Feinbäckerei Studer, direkt am Baseltor. Feinste Nussgipfel, Cremeschnitten, Pralinés und Spezialitäten aus Schokolade lachen mich in der Auslage an. Und doch: Ich interessiere mich für das Brot, das Brot mit «Kropf». Der seitliche Ausriss, der so genannte «Kropf» des Solothurnerbrotes, ist der Vermutung nach ein Gebäckfehler. Heute zeichnet er jedoch die typische und beliebte Form des Brotes aus und erfordert die ganze Kunst des Bäckers, diesen «Kropf» ohne Schnitt zu erreichen. Yves Studer, Inhaber der Feinbäckerei, erklärt: «Das Kohlendioxid, das während der Gärzeit entsteht, wird dank schonendem Anfassen nicht aus dem weichen Teigstück herausgedrückt. Auch wird es nur leicht im Mehl überlegt und dann eben ‹ohne› Schnitt im heissen Ofen gebacken.» So erklären sich seine unregelmässig grosse Porung und die kräftige, leicht mehlige Kruste. Woher diese Methode stammt, konnte er mir nicht sagen. Seine spitzbübische Annahme: «Kann sein, dass der Bäcker damals einfach zu faul war, den Schnitt zu machen – oder er hat ihn einfach vergessen.» Gut möglich, denn in der Geschichte gibt es ja viele grosse Erfindungen, die nur dank Fehlern oder Missgeschicken entstanden. Was für ein Glück!

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Ursus von Solothurn

Weniger Glück hatte Ursus von Solothurn, der heilige Schutzpatron der Stadt. Der Legende nach entkam Ursus zusammen mit weiteren christlichen Soldaten dem Massaker von Agaunum (heute St. Maurice im Wallis) und flüchtete ins Kastell Solothurn, wurde dort jedoch zusammen mit seinen Gefährten um das Jahr 303 enthauptet. Nicht nur geht der gängige Schweizer Männername Urs auf ihn zurück, auch die St. Ursen-Kathedrale ist ihm geweiht, das heutige Wahrzeichen der Stadt. Es gibt aber auch ein kulinarisches Denkmal zu seinen Ehren, der Grittibänz. Dieser ist zwar nicht nur in Solothurn beheimatet. Aber so, wie sie in der Feinbäckerei Studer geformt werden, erinnert er doch sehr stark an den Ritter St. Urs, dem Landesheiligen von Solothurn. Das belegen die Bilder von alten Siegeln. Yves Studer war die Ähnlichkeit seines Grittibänz mit dem Schutzpatronen gar nicht bewusst. Er grinst und meint dazu: «‘s isch immer so gsi!» Also ganz nach den Strophen des berühmten Solothurner Lieds.

Hansel(i)maa, Grättimaa oder Elggermaa

In der Literatur kann man sich seitenlang über Gebildbrote informieren – Brote, deren Formen von symbolischer Bedeutung sind. Das Wort Grittibänz ist zusammengesetzt aus einer Ableitung des Verbs grit(t)e, das «die Beine spreizen» bedeutet, und Benz, einer Kurzform von Benedikt und Bernhard. Trotzdem darf man beim Grittibänz beruhigt davon ausgehen, dass in der Schweiz kein symbolischer Kannibalismus dahinter steckt. Denn: Wer hat schon Appetit auf einen «alten bärtigen Mann, der mit gespreizten Beinen dasteht»? So jedenfalls die Erklärung im Buch «Brauchtum in der Schweiz». Gemäss Atlas der Schweizerischen Volkskunde war der Grittibänz zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast ausschliesslich im Mittelland zu Hause. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitete sich der Grittibänz auch in der Romandie. Mit dem Grad der Bekanntheit stieg auch die Vielfalt der (regionalen) Bezeichnung: Neben Grittibänz also Benz oder Bänz, Grättimaa (Region Basel), Elggermaa (Kanton Zürich und Thurgau), Brötige Maa, Chläus, Bonhomme de Saint Nicolas, Bonhomme de pâte, Bonhomme, Mannala (Elsass). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Grittibänz dann im ganzen Land zu finden, dies wohl in erster Linie dank der Logistik der Grossverteiler. Die Bezeichnung war im 19. Jahrhundert erst in den Regionen Bern, Solothurn, Luzern und Schwyz zu belegen. Im Zürichdeutschen ist sie erst seit dem 20. Jahrhundert bekannt. Das traditionelle Wort in den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Thurgau war Elggermaa. Im Luzernischen und Solothurnischen kannte man das Gebäck auch unter dem Namen Hansel(i)maa.

Um Kopf und Kragen

Anders als beim heiligen Ursus von Solothurn geht es beim Grittibänz backen buchstäblich um Kopf und Kragen. Für die Herstellung des Teigs wägt Yves Studer jeweils alle Zutaten ab: Weissmehl Milch, Salz und Hefe. Alles gelangt gleichzeitig, zusammen mit Wasser in die Knetmaschine. Nach fünf Minuten kommt die Butter dazu. Studer: «Der Teig soll am Ende des Knetens über solch eine Elastizität verfügen, dass man ihn auseinander ziehen kann bis er fast durchsichtig ist.» Der Teig ruht nun während 30 Minuten. Dann wird der Teig portioniert und auf der Arbeitsfläche zu einem länglichen Teigling geformt. Er ist zweigeteilt, oben ein kleiner Teil, der den Kopf ergibt, und unten ein grosse Teil, der Körper des Grittibänzes. «Beim grossen Teigling mache ich drei Schnitte: zwei für die Arme und einen für die Beine.» Nun geht es ans Ankleiden der Teigfigur: Aus kleineren Teigstücken macht er den Gürtel, den oberen Rand eines Stiefels, ein Halstuch oder den Rand einer Zipfelmütze. Die grossen Grittibänze erhalten manchmal eine weisse Tonpfeife oder einen Stab aus Teig. Zum Schluss werden die Figuren mit Teig-Augen, Teig-Knöpfen und so weiter versehen. Dann ruhen die Stücke ca. eine halbe Stunde, erhalten Schnitte für Bauch und Mund und werden anschliessend mit Ei bestrichen. Die Grittibänze kommen zwischen zehn und dreissig Minuten bei ca. 200 Grad in den Ofen, je nach Gewicht. Andere Bäcker geben ihm dann noch eine Pfeife oder Rute. Yves Studers Grittibänze haben neben der Ähnlichkeit zu St. Ursus noch ein ganz anderes Erkennungsmerkmal: «Wir formen die Grittibänze möglichst dick – so bleiben sie lange schön saftig und frisch.» Auf einen solchen Grittibänz muss ich leider noch etwas warten, ist ja noch nicht Dezember. Doch das feine Solothurnerbrot landet umgehend in meiner Tasche und begleitet mich nun – verlockend duftend – auf meinen Rundgang durch Solothurn.

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Magische Elf

Erste Station ist die St. Ursen-Kathedrale. Sie birgt 11 Altäre sowie 11 Glocken und ihre imposante Freitreppe teilt sich in Abteile zu je 11 Stufen. Kein Zufall, denn Gaetano Matteo Pisoni, Baumeister der Kathedrale, liess sich von der magischen Elfer-Reihe aus älterer Zeit inspirieren. Solothurn zählte nämlich jeweils 11 Zünfte, Vogteien, Domherren und Kaplänen. Aber auch heute ist die Zahl 11 in Solothurn noch sehr oft vertreten. Es gibt beispielsweise 11 Museen, 11 Brunnen, 11 Kapellen, 11 Kirchen sogar ein Öufi-Bier. Nach einer Weile erreiche ich den Amtshausplatz, wo der Künstler Paul Gugelmann eine drei Meter hohe «Solothurner Uhr» geschaffen hat. Sie zählt nur 11 Ziffern, und um 11 Uhr bimmeln 11 Glocken das «Solothurner Lied». Nun kann ich dem herrlichen Duft im Brotsack aber nicht mehr widerstehen und beisse direkt in das Brot. Wie sagte Yves Studer noch gleich: «‘s isch immer so gsi!». Und das stimmt eben auch für eine Brotliebhaberin wie mich.