Zu Gast in der Backstube von Willy Rebsamen.
Wenn bei den meisten Schweizerinnen und Schweizern die Tiefschlafphase einsetzt, beginnen andere bereits ihr Tagewerk. Uns anderen zuliebe, die erst am Morgen verschlafen aus den Federn blinzeln: Es sind die zahlreichen Schweizer Bäcker- Konditorenmeister, ihre Mitarbeitenden und Lernenden. In manchen Betrieben geht es bereits um Mitternacht los.
Morgens, 2.00 Uhr, in Biberen im Kanton Bern. Ein scheuer Fuchs quert die Strasse, der Mond scheint hell, die Sterne funkeln. Es rührt sich noch nichts. Biberen schläft tief und fest. Nicht so an der Bernstrasse 98. Hier brennt Licht hinter einem Fenster. Bäcker- und Konditormeister Willy Rebsamen öffnet uns und geleitet uns in die Backstube. Dort fallen als Erstes zwei bereits vorbereitete Teige ins Auge, ein heller und ein dunkler.
«Dies sind der Teig fürs Halbweissbrot und der Vorteig fürs Ruchbrot», erklärt Rebsamen, «ich habe sie gestern Nacht zwischen 21.00 und 22.00 Uhr vorbereitet. Der Vorteig fürs Ruchbrot besteht lediglich aus Wasser, Mehl und Hefe.» Gestern Abend? Das wirft Fragen auf. Denn 22.00 Uhr ist gerade einmal vier Stunden her. Es war also eine äusserst kurze Nacht für den gelernten Bäcker-Konditor. Doch viel Zeit zum Nachdenken bleibt dem Besucher nicht, denn bereits um 2.15 Uhr läuft es in der kleinen Backstube rund. Dem Vorteig fürs Ruchbrot wird noch etwas Ruchbrotteig vom Vortag beigegeben. «So hat man es früher gemacht», erklärt Rebsamen. «Man nennt dieses Vorgehen lange Triebführung.» Im Teig vom Vortag haben sich bereits Aromen entwickelt, die nun auch im «neuen» Teig zur Geltung kommen werden. Diesem Teiggemisch werden nun erneut Mehl und Wasser beigefügt. Dann setzt sich die Knetmaschine sachte in Bewegung.
Zwei Minuten später läuft die zweite Knetmaschine an. Sie knetet den Teig fürs Roggenbrot. «Für alle meine Teige verwende ich kaltes Wasser», erklärt Rebsamen. Dies verlängere die Gärzeit zusätzlich, und auch dies merke man dann deutlich im Brotaroma. Je länger die Triebführung und je länger die Gärung, desto ausgeprägter kämen im Brot später die Aromen zur Geltung. Es ist nun 2.20 Uhr.
Unmerklich hat der Bäckermeister auch den Teig fürs Nussbrot vorbereitet – eine dritte Knetmaschine setzt sich in Gang. 2.22 Uhr: Dem Ruchbrotteig wird Salz zugegeben. 2.25 Uhr: Nicht vergessen, den Ofen einzuschalten. Langsam heizt der Öl-Umluft-Ofen im Hintergrund auf. Dem Ruchbrotteig wird noch ein wenig Wasser zugegeben, denn das heute verwendete Mehl ist «stark», also ein gutes Mehl mit viel Wasserbindungsvermögen. Es ist schon 2.30 Uhr. Die gelernte Bäcker-Konditorin Aline Kreiliger startet ihren Arbeitstag. Als Erstes nimmt sie alle Zutaten, die sie später noch benötigen wird, aus dem Gefrierraum oder dem Kühlraum. Niemand in der kleinen Backstube hat bemerkt, dass bereits eine halbe Stunde vergangen ist. Jeder Arbeitsschritt sitzt. Einer folgt auf den nächsten. Wie von Geisterhand werden auf diese Weise sieben Teige vorbereitet: In Kürze werden die frischen Halbweissbrote, Ruchbrote, Bauernbrote, Nussbrote, Räuberbrote, 6-Korn-Brote, St.-Galler-Brote und Modelbrote ausgeliefert oder über den Ladentisch gehen. Bis dahin bleibt aber noch viel zu tun.
Aline Kreiliger bereitet die Nussgipfel und die Hefeschnecken vor. Sie sticht den Teig für den Früchtekuchen ein, bestreut ihn mit gemahlenen Haselnüssen. Es ist inzwischen 2.40 Uhr. Zeit für Kreiliger, den Rahm für den Nidlechueche aufzukochen. In dieser kleinen Backstube geschieht in kürzester Zeit so viel Unterschiedliches, dass das Auge den verschiedenen Handgriffen kaum folgen kann. «Wir reden nicht viel hier in der Backstube», erklärt Willy Rebsamen. Jeder kenne seine Aufgabe. Ohne eingespieltes Team gehe es nicht, so der Bäcker. Für die nötige Unterhaltung sorgt allein das Radio. 2.50 Uhr: Der Teig fürs Roggenbrot ist fertig. Es folgt der Weggliteig. Der Teig fürs Halbweissbrot wird nun vom «Chef» persönlich portioniert. Er wird zu Broten geformt und muss noch einen Moment gären.
3.00 Uhr: Der Rahm für den Nidlechueche ist eingekocht, der Spinat und der Speck für die entsprechenden Kuchen sind abgewogen. Der Besucher hat eigentlich bereits genug Arbeit gesehen. So viel Handwerk in so kurzer Zeit würde schon längstens ausreichen, denkt man. Doch der Arbeitstag für die Bäckercrew ist noch lange nicht vorüber. Niemandem sieht man an, dass hier mitten in der Nacht schon zwei Stunden flink und emsig gearbeitet wurde. Die weiteren Arbeitsschritte folgen Schlag auf Schlag. «Wir müssen Hand in Hand arbeiten», sagt Kreiliger. Das sei das A und O. Anders gehe es gar nicht. Es ist inzwischen vier Uhr. Ist das Tagwerk nun vollbracht? Das Lächeln von Willy Rebsamen verrät: noch lange nicht. Nein, nun wird der Zopfteig vorbereitet. Die Gipfeli sind schon gerollt. Während der Ofen langsam die benötigten 250 °C erreicht, schneidet die Mitarbeiterin Ruth Burger, die um halb vier emsig und flink ihre Arbeit aufgenommen hat, die Aprikosen für den Früchtekuchen. Kurz nach vier wird als Erstes das Halbweissbrot in den Ofen eingeschossen. «Die Arbeit am Ofen erfordert sehr viel Geschick und Konzentration», erklärt Rebsamen. Nicht selten werde sie deshalb vom Chef persönlich übernommen.
150 Stück Brot und rund 350 Stück Kleingebäck gehen in der Bäckerei Rebsamen Tag für Tag über den Ladentisch, daneben Früchtekuchen, Nidlechueche, Nussgipfel, Mandelgipfel, Würstli im Teig, Poulettäschli, Spinat-, Käse- und Speckkuchen, abwechselnd zehn verschiedene Salatsorten, alle in der Backstube zubereitet, acht verschiedene Sandwichsorten, acht Sorten Canapés, Stückli und Patisserie. Die Fülle scheint keine Grenzen zu kennen. Diese Vielfalt und das rege Treiben in der Backstube sind es denn auch, die Willy Rebsamen so am Beruf des Bäcker-Konditors faszinieren. «Es wird einem nie langweilig», findet er. Gerade Langeweile könne er in einem Beruf nicht ertragen.
Rund 200 Frauen und Männer gehören in der Bäckerei Rebsamen zu den Stammkunden. Wie ist dies möglich in Zeiten der Grossverteiler? «Ich kann es mir, ehrlich gesagt, selber nicht erklären», schmunzelt Rebsamen. An der fehlenden Mobilität der Kundschaft und an der Lage des Betriebes könne es jedenfalls nicht liegen, sagt der Herzblut-Bäckermeister. Darauf, dass diese kleine Bäckerei seit vielen Jahren trotz Konjunkturschwankungen keinen Kundenschwund kennt, ist Rebsamen aber doch ein bisschen stolz. Denn er muss unumwunden zugeben: «Es kann eigentlich nur an der Qualität meiner Produkte liegen.» Die lange Triebführung mache es aus, ist er überzeugt. Während andere nun wieder auf diesen Zug aufspringen würden, habe man in Biberen nie mit dieser Tradition gebrochen.
In der Backstube breitet sich langsam der Geruch von frischem Brot aus. Die ersten Brote werden aus dem Ofen geholt. Eines duftet herrlicher als das andere. «Sehen Sie», der Bäckermeister deutet aufs Fenster, «welch ein schönes Morgenrot.» Während draussen der Tag erwacht, geht die Arbeit in der Backstube rege weiter. Wir haben genug gesehen und verabschieden uns langsam, tief beeindruckt von so viel Emsigkeit, Betriebsamkeit, handwerklichem Geschick und Herzblut. Herzblut, das man schmeckt, wenn man in das knusprige, ofenfrische Räuberbrot beisst. En Guete.