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Tessiner Brotspezialitäten

Zwischen Italianità und abgelegenen Tälern

Das sogenannte Tessinerbrot ist in der ganzen Schweiz bestens bekannt. Doch es gibt im Südkanton noch zahlreiche weitere Brotspezialitäten – vom einfachen «lunghino» bis zum knusprigen «pane Vallemaggia». Einige Brote haben den Weg aus Italien ins Tessin gefunden, andere stammen aus den bergigen Tälern.

Janine Haas

Passiert man den Gotthard in Richtung Süden, so überquert man nicht nur sprachlich, sondern auch kulinarisch eine Grenze. Das Tessin – und besonders der grenznahe Sottoceneri – hat in Bezug auf seine Küche viele Gemeinsamkeiten mit der Lombardei und dem Piemont. Als ich nach Brot-Erinnerungen aus meiner Kindheit im Tessin grabe, fällt mir denn auch vor allem Weissbrot ein: der «lunghino» (ein längliches Weissbrot) und die «michetta» (ein helles Brötchen), die wir in der Schulpause dem Ortsbäcker abkauften, oder die süssen Brioches zum Frühstück oder Zvieri. Der Blick in die Regale einiger Bäckereien bestätigt, dass typisch italienische Brote wie die Ciabatta oder die salzige Focaccia gut vertreten sind. Auch der Panettone und die Colomba, die aus der Lombardei stammen, werden im Tessin produziert, und zwar in einer ausgezeichneten Qualität.

Brote im Tessin
Der Einfluss aus Italien ist spürbar: Panettoni, Colombe und süsse Brioches sind im Tessin nicht mehr wegzudenken. © Gabbani, Pane Lento & Janine Haas

Rustikale Brote aus den Tessiner Tälern

Ich will es genauer wissen. Meine Spurensuche beginnt beim Tessiner Kantonalverband der Bäcker-Confiseure, genauer beim Bäcker und Konditor Giuseppe Piffaretti. Er berät als Grossmeister der «Confraternità ticinese dei cavalieri del buon pane» – einer Art Tessiner Bäckerzunft – den Verband und ist aus einer Kochsendung des Tessiner Fernsehens auch als «Mastro Piff» bekannt. Auf die Brotvorlieben des Südkantons angesprochen meint Piffaretti: «Aufgrund der Nähe zu Italien mögen die Tessiner tatsächlich eher Weissbrot wie die Ciabatta oder die ‘michetta’. Aber mittlerweile sind auch hier rustikale Brote mit ballaststoffreichem Vollkornmehl auf dem Vormarsch.»

Piffaretti
Der Bäcker-Konditor Giuseppe Piffaretti ist aus dem Tessiner Fernsehen auch als «Mastro Piff» bekannt. © Maestro Piff

Der italienische Einfluss ist denn auch nur die eine Seite der Medaille. Als eigentliche Tessiner Spezialitäten gelten die Brote aus den zahlreichen Tälern – von der Valle Muggio ganz im Süden bis zur Leventina im Norden. Ich frage Francesco Gabbani, der in Lugano ein Feinkostgeschäft mit grosser Auswahl an Tessiner Brotspezialitäten führt, was diese ausmacht: «Typischerweise sind die Brote aus den Tessiner Tälern mittelgross und haben eine knusprige Kruste. Sie sind eher dunkel und dank einer Mischung aus Vollkorn- und Roggenmehl kräftig im Geschmack.»

Gabbani Laden
Bei Gabbani in Lugano findet man zahlreiche Brote aus dem ganzen Tessin und die berühmte «torta di pane». © Gabbani

Von der Kastanie zum Weizen

Ursprünglich benutzte man im Tessin vorwiegend Kastanienmehl, um Brot zu backen. Der Kastanienbaum wird deshalb hier auch «albero del pane» (Brotbaum) genannt. Auch Mais und Roggen haben eine lange Tradition. Weissbrot aus Weizen war hingegen lange Zeit ein Luxusprodukt, das man sich nur zu besonderen Gelegenheiten leisten konnte. «Heute werden bei uns Weizen, Mais und etwas Roggen angebaut», so Piffaretti. «Es sind aber vorwiegend kleinere Flächen, zum Beispiel bei Mendrisio, im Maggia- und Bleniotal sowie in der Magadinoebene.» Kommerzielle Getreidemühle gibt es im Tessin mit der Mühle Maroggia noch eine einzige. «Daneben gibt es ein paar sehr alte, wie der ‚Mulino di Dandrio‘, der als einziger in Europa horizontale Mahlsteine hat», sagt Piffaretti. Die Mühle kommt nur noch anlässlich der Ortsfeier zum Einsatz, wenn wie in alten Zeiten Roggen gemahlen wird.

Tessinerbrot
Das Tessinerbrot aus Weiss- und Halbweissmehl zeichnet sich durch seine sechs Teilstücke und Längsschnitt aus. © Schweizer Brot

Auch wenn das Tessin mengenmässig keine bedeutende Getreideproduktion hat: Seine Brotspezialitäten sind nach wie vor lebendig. «Es gibt zum Beispiel das Brot ‚mistura‘ aus einer Mischung aus Mais- und Weizenmehl, das typisch ist für Mendrisio», sagt Piffaretti. Weiter nennt er das Vallemaggia Brot, das Brot Sant’Abbondio oder das helle Tessinerbrot. Letzteres wurde in seiner heutigen Form von der Fachschule Richemont entwickelt und besteht aus etwa sechs länglichen Brötchen. Ursprünglich hiess es «pane a riga» oder «pan fila» (auf Deutsch etwa Reihenbrot) und wurde wohl aus Italien importiert. Schliesslich gibt es auch Spezialitäten, die nur wenige Familien kennen oder die zu besonderen Anlässen gebacken werden – zum Beispiel die «fiascia», ein süssliches Kastanienbrot aus dem Maggiatal, oder das «pane dei morti», das zu Allerheiligen gebacken wird.

Tessiner Brot
Pane Vallemaggia der Bäckerei und Konditorei Naretto. © Janine Haas

Herausgepickt: Das knusprige Vallemaggia Brot

Ich beschliesse, stellvertretend für die Tessiner Brotspezialitäten dem vielgelobten «pane Vallemaggia» nachzugehen und begebe mich nach Ascona zur Bäckerei und Konditorei Naretto. Hier soll das Brot in den 1970er-Jahren erfunden worden sein, von Signora Naretto höchstpersönlich. Der kleine Laden und Produktionsbetrieb liegen am Rand von Ascona. Von hier aus fahren täglich Lieferwagen in Restaurants und Hotels rund um Locarno und Lugano, um das begehrte Brot und andere Spezialitäten – darunter auch die Colomba und den Panettone – auszuliefern.


Die Bäckerei und Konditorei Naretto hat das beliebte Vallemaggia Brot erfunden. Der italienische Einfluss ist spürbar: Helle Brote sind in den Tessiner Bäckereien gut vertreten. © Calzebue Photography

Ich werde von Familie Caterina empfangen, welche die Bäckerei seit 2008 führt. Nach dem Tod von Signora Naretto sah sich ihr Mann gezwungen den Betrieb zu verkaufen, und mit ihm ging auch das Originalrezept des Vallemaggia Brots auf die Caterinas über. Als ich ankomme ist es kurz vor Mittag und die Mitarbeitenden trimmen gerade die Backstube auf Hochglanz und packen die letzten «veneziane» ein – eine Colomba in Form eines Cakes. Ich frage Davis Caterina, der seit 1970 für die Bäckerei arbeitet, was das Vallemaggia Brot so speziell mache: «Das ist die lange Triebführung. Sie macht das Brot aussen knusprig und innen feucht und luftig.» Mehr will er nicht verraten. Dass das Brot seinen besonderen Status verdient hat, wird sofort klar, wenn man es selber in den Händen hält: Aussen ist es so knusprig, dass beim Anschneiden Brotkrumen durch die Gegend fliegen, und innen ist es weich und voll kleiner und grosser Löcher.

Naretto
Aussen knusprig, innen weich und voller Löcher: das «pane Vallemaggia» ist eine Gaumenfreude! © Calzebue Photography

Das «gute Brot» von Bellinzona

Den zum Vallemaggia Brot passenden Käse oder eine würzige Tessiner Wurst bekommt man zum Beispiel am Samstagsmarkt in der Altstadt in Bellinzona, am Fusse des Castelgrande. Hier bieten lokale Betriebe ihre Produkte an. Und hier findet man eine weitere Tessiner Brotspezialität: das «pan bun» (auf Deutsch «gute Brot») oder «pane del mercato» der Bäckerei Peverelli aus Bellinzona – ein 3-Kg-Brot, das wie in italienischen Bäckereien üblich stückweise verkauft wird.

Pan Mercato
Wird am Stück verkauft: Das «pan bun» von Peverelli ist am Wochenmarkt in Bellinzona zu finden. © Peverelli

Als ich zum Stand komme, fragt eine ältere Frau gerade fachkundig nach einem möglichst flachen Stück. Das dunkle Brot ist nur einige Zentimeter dick und enthält eine Mischung aus Halbweiss-, Ruch- und Roggenmehl. Erfunden hat das Brot Kiko Peverelli, und weil es so gut war, nannte seine Frau Paola es kurzentschlossen «pan bun». Auf die Frage, was das Brot so speziell mache, meint sie, es werde halt mit viel Liebe produziert – und die lange Triebführung und der «lievito madre» (ein italienischer Grundsauerteig) seien ebenfalls wichtig, fügt sie hinzu.

Das Pan100 – ein zu 100 % Tessiner Brot

Um die Brotvielfalt im Kanton zu erhalten und weiter zu fördern, möchte der Tessiner Kantonalverband der Bäcker-Confiseure wieder mehr Leute in die Bäckereien locken. «In der Deutschschweiz wird das traditionelle Brotbackhandwerk noch stärker geschätzt. Im Tessin sind die Leute hingegen weniger bereit, für ein Qualitätsprodukt etwas mehr zu bezahlen – auch weil heute leider viele Familien nur knapp über die Runden kommen», meint Piffaretti. Die Preise der Produkte, die von Richemont entwickelt werden, müssten fürs Tessin deshalb jeweils nach unten angepasst werden.

Pan100
Der Verband will mit dem zu 100% Tessiner Brot «Pan100» wieder mehr Kunden in die Bäckereien locken. © SMPPC

Die jüngste Initiative des Verbands ist das «Pan100», das Piffaretti auf das 100-Jahre-Jubiläum hin entwickelt hat. Das Brot enthält ausschliesslich Tessiner Weizen-, Roggen-, Hartweizen- und Maismehl von der Mühle Maroggia und wird von rund 30 Tessiner Bäckereien angeboten. «Es ist ein Brot mit langer Triebführung und einer goldbraunen Farbe, das im Steinofen gebacken wird», erklärt Piffaretti. Daneben gibt es auch junge Leute, die sich dem traditionellen Backhandwerk verschreiben. So führen ein Deutscher Chirurg und ein Tessiner Architekt aus dem Muggiotal in Lugano die Bäckerei «Pane Lento» (auf Deutsch «Langsames Brot»). Der Name ist Programm: Sie verwenden ausschliesslich «lievito madre», und der Teig fermentiert bis zu 72 Stunden lang. Kleine Notiz am Rande: Ihre Brioches sind mit hausgemachter Konfitüre gefüllt!

Aus Brotresten eine Torte zaubern

Als ich in die Deutschschweiz zurückfahre, habe ich eine ganze Reihe köstlicher Brote im Gepäck. Für den Fall, dass Reste übrigbleiben, ist vorgesorgt: Dann kommt die «torta di pane» zum Zug, eine traditionsreiche Tessiner Brottorte. Die Hauptzutaten sind altbackenes Weissbrot, Milch, Eier, Kakao, Amaretti, kandierte Früchte und Pinienkerne. Das Rezept findet man zum Beispiel hier oder auf Ticino Turismo. Und wer es einfacher mag oder grad keine Brotresten zur Hand hat, geht zum Beispiel zu Gabbani an der Piazza Cioccaro in Lugano und kauft sich welche im Glas oder offen nach Gewicht. Buon appetito!